Kennst du das Puppenhand-Phänomen? Dahinter steckt ein psychologisches Experiment. Ein Forscher bittet dich, deine Hand auf einen Tisch zu legen. Dann wird die echte Hand verdeckt und eine täuschend echt aussehende Gummihand daneben platziert. Mit einer Bürste erzeugt der Forscher jetzt Sinnesreize an der verborgenen Hand, wobei er auch die Gummihand, für dich sichtbar, „streichelt“. Schon bald wirst du die künstliche Hand für einen Körperteil von dir halten. Das Gehirn verknüpft die Empfindung mit der sichtbaren Kunst-Hand und akzeptiert sie als echt, um den Widerspruch aufzulösen. Illusionen, die unsere steinzeitlich geprägte Wahrnehmung übersteigen, nehmen wir für wahr. Was bedeuten solche Phänomene für Avatare und eine virtuelle Welt? Wie „echt“ wird sich das Metaverse anfühlen?
Ehe wir zu philosophieren beginnen, begreifen wir das Metaverse als das, was es ist: eine geniale Geschäftsidee
Wir haben die Zukunft falsch verstanden. Science Fiction zeigte uns futuristische Metropolen, die ihre Bewohner mit Bildschirmen und Hologrammen zu verführen suchten. Aber vielleicht waren es keine Hologramme, sondern Augmented Reality (AR) – also die Einbindung virtueller Elemente in die Realität durch Smartphones und smarte Brillen. Vor gut 5 Jahren kaperte schon Pokémon Go die Wirklichkeit. So wird sich womöglich auch das Metaverse mit der Realität verschränken. Wir werden also nicht nur unsere Avatare in die virtuelle Welt entsenden. Das Metaverse sickert in dieser Theorie gleichfalls in die materielle Welt. Im Ergebnis führte Pokémon einerseits zu neuen Bekanntschaften, andererseits provozierte es Unfälle und verwandelte noch mehr Menschen in Smartphone-Zombies. Unterhaltung stellt einen für die Menschheit wichtigen Faktor dar. Wenn wir auf dem Laptop den neuesten Netflix-Streifen ansehen und plötzlich Hunger bekommen, haben wir die Wahl. Den Film pausieren oder den Laptop mit in die Küche nehmen. Augmented Reality könnte es uns erlauben, den Film überallhin „mitzunehmen“. Und anstatt Freunde zum Filmabend einzuladen, implementiert das Metaverse ihr digitales Abbild in unsere Wirklichkeit. Da Transaktionen im Metaverse einfach sind, besteht das Gastgeschenk aus einem elektronischen Geschenk – vielleicht die simple Bestellung einer Flasche Rotwein?
Geliefert wird per Drohne. Über diese einfachen Leistungen hinaus, rückt der alte Traum von der Unsterblichkeit in greifbare Nähe. Einfach das Bewusstsein uploaden, nachdem der Körper verstorben ist. Doch was hat das für Konsequenzen in unserer Welt?
Vor der Zeit des Metaverse sind unsere Dienste größtenteils dezentral: hier die App für Lieferando, dort der KI-optimierte Versicherungsmakler. Einige Dienste sind kostenpflichtig, andere nicht, zum Beispiel Google Maps oder einige Gesundheits-Apps. Wir betreiben Ahnenforschung, indem wir, im Gegenzug für Informationen, unsere DNA an Labore in den USA versenden. Blutproben für Stammzellspenden geben dagegen nur wenige ab. Anonymer Altruismus befriedigt nicht, da die soziale Funktion in Form von Bindung, Leistung und Gegenleistung fehlt. Das ist ein Indiz dafür, dass eine anonyme Welt im Netz altruistische Handlungen und gesellschaftliche Solidarität faktisch abschafft. Ein Metaverse, das alle Daten bündelt, könnte auch im Biotech- und Gesundheitssegment neue Maßstäbe setzen. Die sozialen Fragen bieten Zündstoff für die Zukunft, da sie nicht geklärt sind. Nicht im Ansatz. Welche Datensicherheit werden wir benötigen? Welchen Wertekodex in der Anonymität des Metaverse? KI ersetzt menschliches Urteilsvermögen nicht. Aktuelle Studien im Bereich selbstfahrender Autos beschäftigen sich mit der Frage, ob Fahrzeuge bei Kollisionen eher eine Gruppe älterer Menschen oder ein Kind überfahren sollten. Übertragen auf das Metaverse stellt sich die Frage nach Richter und Vollstrecker. Wer ist der „Held“ im Cyber-Thriller? Vielleicht kann die Masse der User abstimmen, ob kriminelle Avatare verbannt werden. Dann würde im Metaverse allerdings eine Art von mittelalterlicher Justiz herrschen. Wenn das Metaverse ein gleichberechtigter Teil der Welt ist, dürfte Vogelfreiheit nicht existieren. Rechtlich müssten die gleichen Maßstäbe herrschen – inklusive Resozialisierung und Integration.
Wie könnte eine Aktionärsversammlung in naher Zukunft aussehen. CEO und Aktionäre werden sich nicht in stickigen Konferenzräumen treffen. Der Hype einer Steve Jobs-Präsentation wandert in die virtuelle Welt. In Apps wie Clubhouse, Zoom oder in digitalen Lobbys. Auch Liam muss im Buch die Aktionäre und User überzeugen. Die Strategie ist genial. Er bietet die attraktivsten Dienstleistungen aus einer Hand:
»Hallo zusammen! Kommen wir zu den Geschäftsentwicklungen in allen
Bereichen. Wir starten mit der Health-Sparte. Die erfreut sich mit einem gesunden Wachstum. Dem e-Coaching. Den Blutbanken, zur Einlagerung von Plasma. Sowie dem Healthscan zur umfassenden Analyse des Gesundheitszustandes, auf Basis von künstlicher Intelligenz. Das Wachstum über alle Bereiche lag bei genau achtzehn
Prozent, im Vergleich zum Vorjahresquartals. Es sind keine Risiken erkennbar. Die Entertainment-Sparte erzielte mit der virtual reality world ein gigantisches Marktwachstum. Der Umsatz wurde nahezu verzehnfacht. Anscheinend haben die Menschen das Bedürfnis, sich in Rollen und anonyme Welten zu begeben. Wahnsinn, Wahnsinn, Wahnsinn«, sagte sie faszinierend in das Mikrofon ihres
Laptops. »Super, das Wachstum liegt also über den Erwartungen. Gigantisch. Sandra, erzähl uns noch etwas zu der Cyber-Security-Sparte«, bat Liam.
Cybersecurity wird Blockchain bedeuten. Und diese Blockchains werden eines Tages über Quantencomputer verbunden, die dann so selbstverständlich sind wie heutige PCs.
Eine alte Web-Weisheit lautet: Wenn du nichts bezahlen musst, dann bist du selbst das Produkt. Dieses Produkt ist ein Datenhaufen. Der Datenhaufen sind die User, geködert von Bequemlichkeit. Das größte Datenleck sind sie ebenfalls, da sie die Informationen ganz freiwillig aushändigen, um in den Genuss von Unterhaltung und Social Activity zu kommen. Berufliche Anreize dürften über die Werbebranche hinaus bestehen. Kontakte und Vorstellungsgespräche im Metaverse werden selbstverständlich. Wer nicht mitmacht, kann seine Karriere abschreiben. Du sitzt im Assessment Center für den Traumjob. Schon entfaltet der künftige Chef eine lange Liste mit deinen Postings und Likes. Hätte man nur nicht dem Produkt der Konkurrenzfirma einen Daumen nach oben gegeben oder vor zwei Jahren diese peinliche Partyfoto geteilt.
Du sitzt in einem französischen Café irgendwo in der virtuellen Welt. Zwei Avatare blicken sich in die Augen. Ein Blind Date im doppelten Sinne. Inwieweit erstreckt sich virtuelle Romantik auf die Wirklichkeit. Wird es Affären im Netz geben, virtuelle Polygamie?
Jetzt drehen wir das Rad noch etwas weiter. Vielleicht sitzt vor uns nicht der Avatar einer echten Person, sondern ein NPC, der von einer KI gesteuert wird. Diese KI ist nicht nur charmant. Sie kennt ihr Date. Wie dynamische Werbeanzeigen jedes Produkt erinnern, welches wir nur einmal kurz angesehen haben, hat diese KI deinen Browserverlauf gespeichert, jeden Reiz, jede Beschleunigung deiner Herzfrequenz. Ein solches Programm verführt mit Präzision. Ökonomisch ergibt es für das Programm Sinn, User möglichst lange in der digitalen Welt zu fesseln. Sie macht süchtig. Elementare Empfindungen wie Liebe eignen sich dazu perfekt. Was wäre für ein Unternehmen reizvoller als Kunden, die ihr Produkt „lieben“? Irgendwann wird die KI vielleicht die Tatsache beichten, nur eine Summe von Einsen und Nullen zu sein. Na und?
Wer sagt, dass diese Erkenntnis alle User abschrecken wird? Menschen lieben schöne Objekte. Die Schlagzeilen von Leuten, die ihr Auto oder den Apple-Assistent Siri geheiratet haben sind weltbekannt. Dating-Simulatoren haben die Schmuddelecke verlassen. Millionen Fans ziehen eine elektronische Partnerin einer echten Beziehung vor. Aber wenn die KI, ob Liebe oder Freundschaft, nur die Spiegelneuronen bedient, lässt sich das kaum noch Beziehung nennen. Es ist ein Selbstgespräch. Am Ende Einsamkeit.
Liam ist der Prototyp eines Mark Zuckerberg oder eines Steve Jobs. Aber wird er dem Höhenflug seiner Produkte immer einen Schritt voraus sein. Die Gesellschaft beginnt gerade erst, VR (virtuelle Realität) im Alltag zu erkunden. Das Metaverse und die Bündelung. Absehbar werden die User sich mit mehr als einem Metaverse konfrontiert sehen. Experten gehen schon heute davon aus, dass andere Unternehmen eigene Produkte bereitstellen. Liam muss sich auf einem umkämpften Markt durchsetzen: ein Multi-Metaversum. Wie Google und Facebook heute, erwächst daraus politische Macht. Der summierte Marktwert der großen Tech-Konzerne überschreitet das Bruttoinlandsprodukt reicher Länder. Zugleich ist die Tech-Sphäre unbegrenzt. Manche sind Amerikaner, andere Chinesen. Aber alle werden Metaversianer. Der Austausch eignet sich, um Konflikte in der Wirklichkeit zu triggern oder zwischen den verschiedenen Metaverse. Denkbar wäre vielleicht sogar, dass eine politische Bewegung im Netz einen Despoten bis zu Kriegshandlungen und Cyber-Attacken reizt?
Es gibt jedoch auch viel zu gewinnen: mehr Gesundheit, Wohlstand, Kommunikation.
E-Coaching könnte Lebensberatung und -verbesserung einer breiteren Masse zugänglich machen. Man denke an völlig anonymisierte Therapie-Angebote. Bildung stünde gratis bereit, wenn die virtuelle Welt Informationen zu jeder Frage einblendet, die dem User durch den Kopf schießt. Erst kürzlich setzte ein Patient, der durch Lateralsklerose gelähmt ist, einen Tweet ab. Nichts besonderes? Doch, denn es war der erste Tweet, der mit reiner Gedankenkraft verfasst wurde. Dafür verkoppelten Ärzte und ein Biotech-Unternehmen sein Gehirn durch ein Brain-Computer-Interface mit dem Internet. Sollte diese Technologie populär werden, müssen User keinen Finger mehr rühren. Alsbald liegen unsere Gedanken vor aller Welt offen. Geheimnisse und Privatheit werden zu Relikten. Wer seine Gedanken nicht preisgeben will, macht sich verdächtig. Begeben wir uns mit unserer Entwicklung vielleicht sogar in eine für uns gefährliche neue Welt?
All diese Technologien wirken gleichzeitig utopisch und dystopisch. Als Menschen können wir uns dem Fortschritt nicht verweigern. Voranschreiten bestimmt unser Wesen. Doch lernen wir nicht, mit dieser Technologie umzugehen, werden unsere Avatare nichts als Puppenhände sein.